Ein Mutmach- und Abschiedsbrief

"Es ist ziemlich schwierig ...

... für mich, in Worte zu fassen, welche Bedeutung die WG in den letzten zwei Jahren für
mich hatte und welchen emotionalen Wert sie heute für mich besitzt: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Bedenken und Zweifel ob der Notwendigkeit meines Aufenthaltes hier verhindert haben, dass ich die WG als mein zu Hause anerkennen konnte... und ein zu Hause ist sie letztendlich geworden, auch wenn es bis dahin etwa neun Monate gedauert hat.

Zumindest war es der erste Ort seit vielen Jahren, an dem ich mich so ungezwungen und natürlich verhalten und bewegen konnte, ohne Gelächter, Strafe oder emotionale Verletzungen befürchten zu müssen.
Der Gedanke, die Bewohner der WG als „Versuchskaninchen“ bzw. „Experimentierfeld“ zu benutzen, um meine sozialen Kompetenzen und meine Persönlichkeit zu entfalten, erschien mir zwar immer total absurd, letztlich aber tat ich es unbewußt doch, wofür ich sehr dankbar bin! So tastete ich mich langsam und naiv an die vermeintlich gefährlichen BewohnerInnen heran, stürzte mich in Schlachten, versuchte hier und da zu trösten und Freundschaften zu entwickeln (leider erfolglos) und landete regelmäßig in irgendwelchen Fettnäpfchen.

Ich fühlte mich in der WG nach vielen Jahren erstmals wieder ernst genommen sowie wertgeschätzt (meistens jedenfalls), so dass es mir gelang, mein starkes Misstrauen sowie einige meiner stärksten Minderwertigkeitsgefühle und Selbstzweifel abzulegen und stattdessen von Monat zu Monat selbstsicherer aufzutreten; zunächst in der WG, später auch außerhalb im Freundes- und Bekanntenkreis.
Bis es jedoch soweit war, stand mir ein hartes Training bevor: So mußte ich lernen, mein Essverhalten spontaner und flexibler zu gestalten, an erzwungenen und unvorbereiteten Mahlzeiten teilzunehmen, zu nachtschlafener Stunde zu frühstücken, meine Zwänge soweit abzubauen, dass ich ein „normales, geregeltes Alltags- und Arbeitsleben" (Oh Gott, wie langweilig-gähn!) führen und soziale Kontakte dauerhaft pflegen konnte und lernte, regelmäßig Supermarkt- Einkaufsmarathons durchzuführen, ganze Lebensmittelfuhren anzuschleppen und alles in einer einzigen Mahlzeit zu verbraten („that´s life“) und vor allem dem gelegentlichen Zickenterror der anderen Bewohnerinnen mutig entgegenzutreten.

Trotz alledem bin ich dankbar für jede positive und negative Erfahrung, die ich in den letzten zwei Jahren in der WG machen konnte, denn gerade die Konflikte, Streitgespräche und anstrengenden, angst- oder schambesetzten Situationen im Umgang mit den Mitbewohnerinnen über Monate hinweg haben mich emotional stabiler, selbstsicherer, authentischer und lebendiger werden lassen.An dieser Stelle möchte ich den Betreuern ein großes Lob sowie Dank dafür aussprechen, dass sie in unzähligen Gesprächen monatelang mit Erfolg versucht haben, meine Falschwahrnehmungen zu korrigieren ( obwohl ich oft auch Recht hatte – grins), meine Ängste, Sorgen und Zweifel zu verringern und mich zu ermutigen, zahlreiche Herausforderungen anzunehmen (wie z.B. Absolvieren von Praktika, Beginn der Ausbildung, Reisen in andere Städte, Verabredungen u.v.m.).
Aber auch ihr Bewohnerinnen seid herzlich geknuddelt, denn ohne Euch hätte Spiele- und DVD- Abende, gemeinsame Ausflüge, Gruppenreisen, zahlreiche schöne und belastende Esssituationen sowie chaotische spontane Aktivitäten in Berlin nicht stattgefunden!

So werde ich mich nicht nur lange mit den Räumlichkeiten der WG und dem romantischen „Bonzenviertel“ Dahlem und Lichterfelde- West emotional verbunden fühlen, sondern auch Betreuer und Bewohnerinnen vermissen und viele schöne Erinnerungen an gemeinsame WG- Aktivitäten, Diskobesuche, Spieleabende und vor allem an tiefgründige und humorvolle Gespräche dauerhaft im Herzen tragen.

Möge Gott mit Euch sein!"

(Diesen Brief erhalten zu haben, bedeutet uns Allen sehr viel. Wir haben darum gebeten, ihn hier als Text zeigen zu dürfen, weil wir nicht besser beschreiben können, wie das Leben in der WG ist - und was daran heilsam ist. Danke also auch für diese Erlaubnis.) Lachend